Short Story (DE) – Heimkehr – Eine Kurzgeschichte

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Heimkehr

Es ist ein schöner, sonniger Tag. Es ist warm.
Kein Wölkchen trübt den Himmel, als der silberne Sportwagen mit offenem Verdeck in die Einfahrt fährt und langsam zum Stehen kommt.
Die Frau schaltet den Motor ab und bleibt sitzen. Ihre in schwarze Seidehandschuhe gesteckten, zarten Hände umklammern das Lenkrad. Das Gesicht ist kaum erkennbar, da sie auf ihrer platinblonden Dauerwelle einen schwarzen Hut trägt, von dem ein Netz bis etwa an ihr Kinn reicht.
Der Wind pfeift ihr um die Ohren, nur sanft, und streicht ihr ein paar Strähnen ins Gesicht. Schliesslich greift sie nach ihrer schwarzen Handtasche und öffnet langsam die Tür.

Wieder vergehen ein paar Sekunden, bevor sie einen Fuss in einem schwarzen Lederstiefel mit sehr hohen Absätzen auf die Erde setzt und aussteigt.

Es riecht nach Landluft. Nach dem Mist der umgebenden Bauernhöfe. Nach Tieren, die auf diesem Hof vor langer Zeit einmal gelebt haben und nun nicht mehr sind. Nach Heu, Gras und Weizenfeldern. Der Boden ist staubig und sandig. Schon lange ist hier niemand mehr gegangen.
Aus der Ferne hört sie leise das Muhen einer Kuh.

Im Innenhof, den man durch die morsche und zerbrochene Tür sehen kann, sieht sie einen kleinen Jungen stehen. Er ist etwa 10 Jahre alt und hüpft wie wild vor Freude auf und ab und ruft etwas. Aber sie kann es nicht hören.
Sie versucht, ihn zu erreichen, streckt die Hand nach ihm aus, aber da löst er sich schon in Luft auf.
Langsam lässt sie die Hand sinken. Dreht um, will zum Wagen zurück. Aber ihr gehen die Worte ihres Psychotherapeuten nicht aus dem Kopf.
..Gehen Sie zurück…

Sie dreht sich wieder um. Läuft zur Tür.
…Stellen Sie sich dem Ursprung…

Ihre Hand greift nach der Klinke, aber die Tür springt laut quietschend von alleine auf.
Sie betritt den Innenhof. Alles ist leer, voller Staub. Ein paar alte, zerbrochene Stühle liegen auf der gegenüberliegenden Seite. Die Pflastersteine sind kaum erkennbar unter dem Stroh und der Erde.
Sie bückt sich. Wischt die Erde weg. Sieht die Grauen Steine, die darunterliegen. Sieht es wie einen Film vor sich herziehen: Der kleine Junge hüpft auf dem Hof herum. Ihr Bruder. Sie läuft hin, nachdem sie so lange fort gewesen war. Nimmt ihn in die Arme. Will ihn hochheben, aber der 2 Jahre jüngere Junge ist ihr noch zu schwer. Sie ist noch zu schwach.
Ihre Mutter steht in der Tür, die von der Küche in den Innenhof führt und lächelt ihr freudig entgegen. Ihr Auge ist blutunterlaufen und eine leicht blutende Narbe geht ihr über die gesamte linke Wange. Sie hält ein Taschentuch aus Stoff davor, damit ihr Gesicht nicht zu sehr verschmiert.
Im Inneren des Hauses hört sie die tiefe, gröhlende Stimme ihres Vaters wie grollenden Donner, der grosses Unheil verkündet. Die Stimme wird lauter, nähert sich der Haustür. Ihr Bruder klammert seine kleinen Fingernägel in ihren Arm und sein fröhliches, unbeschwertes Kinderlachen weicht einem schluchzenden Geschrei; angsterfüllt sieht er zur Tür, die nun mit grossem Schwung auffliegt.

Die Szenerie verschwindet.
Die Frau bemerkt, dass sie sich auf die Steine hat fallen lassen und steht hastig auf, um Staub und Dreck von ihrem schwarzen Designerkostüm zu wischen, was nicht ganz gelingt. Sie stockt und überlegt erst kurz, entschliesst sich aber schliesslich doch, das Haus zu betreten. Sie geht durch die Haustür, die hier vom Innenhof in einen Flur mündet, der dann am Wohnzimmer vorbei zur Treppe führt.

Klapprig und quietschend fliegt sie auf und zu. Das Schloss ist kaputt und sie ist lange nicht mehr geölt worden.

Ehrfürchtig blickt sie die saubere, frisch gebohnerte Treppe hinauf und sieht ihrem Bruder ins Gesicht. Der 5 Jährige sitzt zusammengekauert oben an der Treppe und sagt leise: Psst. Papa haut gerade Mama..Sei leise, sonst hört er uns noch
Er hält einen kaputten Teddybär in der Hand. Sein linker Arm ist abgerissen und die Füllung quillt heraus. Ihr Bruder weint bitterlich und flüstert: Papa ist böse böse böse

Die Frau dreht sich weg und als sie das nächste Mal hinsieht, ist die Gestalt verschwunden, die Treppe liegt staubig und unbenutzt vor ihr.
Leise betritt sie das Wohnzimmer. Sie hört den Fernseher laufen und sieht die Gürtelsammlung ihres Vaters an der Wand baumeln. Hastig durchquert sie das leere Wohnzimmer, sieht sich aber am anderen Ende des Raumes noch einmal um.

Ihr Vater sieht sie eine Weile nachdenklich an und stellt schliesslich den Fernseher lauter. Sie wusste immer, was danach kommen würde.
Lüstern starrt er sie an und steht auf. Sie läuft nicht weg. Sie ist nie weggelaufen. Sie ist starr vor Angst. Hofft nur, dass es schnell vorbei ist. Das ihre Mutter schnell vom Einkauf zurück sein würde.

Weinend steht die Frau in der Tür und malt mit der Stiefelspitze kleine Kreise in den Staub auf dem Boden. Die Bohlen sehen alt aus und sind sehr trocken und spröde. Eine Maus huscht durch den Raum und verschwindet in einem Loch in der Wand. Die einst weissen Wände sind vergilbt und die Farbe blättert ab.

Sie dreht sich um und betrachtet die kleine Kammer, in der sie nun steht.

Verbittert denkt sie an das, was ihr Vater ihr hier angetan hat. Leise schliesst sie die Tür und läuft zurück. In die Küche.

Sie lehnt sich an die Wand. Betrachtet die glänzenden Kacheln an der Wand. Den gefüllten Obstkorb auf dem Tisch. Die Blumen am Fenster. Hört ihre Mutter singen. Sie steht am Herd und kocht. Das Essen duftet. Heute ist Euer Vater nicht zu Hause sagt sie fröhlich und strahlt ihre Kinder an. Machen wir uns einen schönen Tag?

Sie kann sich erinnern. Es war der schönste Tag ihres Lebens. Sie war sehr überrascht, dass ihre Mutter so fröhlich sein konnte. So viel gelacht hatte sie noch nie.

Sie und ihr Bruder sitzen am Küchentisch und zählen die Punkte auf der Plastiktischdecke. Sie reden mit ihrer Mutter, erzählen belanglose Geschichten und Erlebnisse. Essen gemeinsam. Spielen miteinander. Helfen ihrer Mutter beim Heu in die Scheune tragen. Die Treppe hoch, auf den offenen Heuboden. Ihr Bruder albert auf der Treppe immer herum. Irgendwann fällst du und brichst Dir das Genick warnt ihre Mutter. Ihr Bruder lacht. Herzlich und ausgiebig. Und lange.

Sie erinnert sich, wie sie am Küchentisch sitzt. Mutter.. fragt sie. Wo ist mein Bruder? Ihre Mutter steht am Herd und kocht.
Sie singt nicht.
Vater ist heute da.
Sie blutet den Rückenteil ihres Kleides voll. Aber sie ignoriert den Schmerz. Sie antwortet nicht auf die Frage.

Der alte, morsche Küchentisch steht immer noch da. Aber die Tischdecke ist verschwunden. Die Kacheln an der Wand glänzen schon lange nicht mehr und feine Risse ziehen sich durch sie hindurch.
Der Herd steht angerostet in der Ecke. Er ist schmutzig und funktioniert nicht mehr.
Die Frau dreht sich um. Schwarze Tränen rollen ihr das Kinn hinunter. Die Mascara ist verlaufen.

Sie durchquert die Küche und betritt das Schlafzimmer ihrer Eltern. Oft kam sie hier herein geschlichen, um ihre Mutter zu wecken, wenn Vater bei der Arbeit war. Mutter war immer schwer zu wecken.

Eine Packung Schlaftabletten lag immer neben ihrem Bett. Aber sie nahm nie zu viele davon. Obwohl sie oft davon sprach.
Dann macht sie kehrt und endlich traut sie sich, die Treppe hinaufzusteigen.
Sie macht einen Halbkreis und endet an einer Tür.
Sie quietscht nicht beim Aufmachen.

Vor der Frau liegt ein relativ grosser Raum, in dem ein Schrank und zwei Betten stehen.
Ihr Bruder sitzt auf dem Bett rechts, von der Tür aus gesehen, sieht sie an und flüstert nur Geh nie weg. Bleib für immer bei mir. Lass mich nie allein

3 Monate war sie in dieser psychosomatischen Klinik. Sie wollte nicht nach Hause. Lieber sterben.
Aber ihren Bruder wollte sie nicht zurücklassen.
Er schluchzt und seine Arme und sein Bauch sind voller Narben und blutiger Striehmen.
Beschütz mich

Sie erinnert sich, wie sie unter ihrem Bett liegt. Zitternd vor Panik. Ihr Vater hat ihren Bruder auf sein Bett geschmissen und prügelt ihn windelweich. Sie weiss noch, das er kaum einen heilen Knochen mehr im Leib hatte.
Sie weiss auch noch, dass sie Angst hat. Wahnsinnige Angst. Wenn er sie entdecken würde, wäre sie die nächste.

Nachdem sie ihren Bruder ins Krankenhaus gebracht haben, verging Vater sich öfter an ihr. Sie begann, die Puppen aufzuschlitzen. Sie anzubrüllen. Sie zu verschandeln. Ihnen die Augen auszustechen. Die Genitalien zu verstümmeln.
Darum kam sie in diese Klinik.

Sie setzt sich auf ihr altes Bett. Es ist nur noch das Gestell übrig, aber für eine Minute will sie hier sitzen und denken.
Sie überlegt lange, ob sie es wagen will, aber letztendlich entschliesst sie sich, auch die Scheune mit dem Heuboden aufzusuchen.
Sie muss das Haus wieder durchqueren, den Hof und halb ums Haus herumgehen. Die Scheune steht ca 100 m weit weg, aber sie ist auch aus der Entfernung ein sehr grosses Gebäude. Langsam läuft sie darauf zu. Sie rechnet damit, dass auch hier alles verfallen ist.
Aber als sie die Scheune betritt, stellt sie fest, dass alles noch sehr stabil ist.

Komm! Winkt ihr Bruder ihr zu. Lass uns hochklettern! Er ist für seine 11 Jahre ein sehr kleiner, dünner Junge. Er läuft immer etwas gebückt und stets mit langärmeliger und -beiniger Kleidung herum, damit man nicht die blauen Flecken und die Narben sieht.
Schnell läuft er voran und erklimmt eine Sprosse der Leiter nach der anderen. Etwas ängstlich läuft sie ihm hinterher. Albere nicht so herum warnt sie. Sie weiss noch, was ihre Mutter immer sagt.

Er lacht nur. Er ist heute anders als sonst. Er wirkt freier. Sicherer, losgelöster als sonst.
Sie hat Angst, zu fallen. Der Heuboden ist sehr hoch oben. Wenn man ungeschickt fiel, konnte man sich das Genick brechen und sterben.
Vorsichtig folgt sie ihm.
Keine Angst sagt er. Ich halt dich, wenn etwas passiert
Er kommt sicher oben an und setzt sich auf den Holzboden neben die Leiter. Als seine Schwester oben ankommt, reicht er ihr die Hand und hilft ihr hoch.

Sie setzt sich auf die andere Seite der Treppe und sieht ihren Bruder fragend an. Er lacht nur wieder leise und sagt Ich werde frei sein. Nie wieder wird Vater mich schlagen können. Sie versteht erst, was er meint, als er aufsteht, die Arme ausbreitet, sich elegant, wie ein Schwimmer, abstösst und mit vollem Schwung in die Tiefe springt.

Mutter…? Willst Du mir nicht antworten? Wann kommt mein Bruder wieder? Er ist doch im Krankenhaus, oder? Oder?
Sie spielt nervös mit der gepunkteten Tischdecke. Ihre Mutter legt zitternd die Kartoffeln weg. Sie hat sich geschnitten. Der Rückenteil ihres Kleides beginnt, zu verkrusten. Lange, sehr lange sieht sie schweigend aus dem Fenster.

Schatz, Dein Bruder kommt nicht mehr..
Schluchzend wischt die Frau sich die Mascara-verschmierten Tränen aus dem Gesicht. Wieder sitzt sie, wie an jenem Tag, neben der Leiter auf dem Heuboden und starrt nach unten. Sie verzieht zynisch lächelnd das Gesicht.

Was für ein schlechter Therapeut denkt sie. Diese Rechnung werde ich wohl nicht bezahlen
Was es für ein Gefühl ist, frei zu sein? fragt sie sich. Sie sieht ihren Bruder lachen, so froh, wie lang nicht mehr. Ich werde frei sein. Frei

Wie ein Echo wiederholt sich seine Stimme und dieses eine Wort in ihrem Kopf. Frei…
Da sieht die eine Bewegung. Ihr Bruder betritt die Scheune. Er ist elf Jahre alt, strahlt sie frech an. Ich bin frei, siehst du? Keine Narben. Kein Blut.
Seine Füsse wischen den Staub und das liegengelassene Heu vom Boden.

Lächelnd steht er vor der Leiter. Geh nicht fort, Schwester. Bleib immer bei mir. Du hast es versprochen..
Ich lasse Dich nicht allein. Niemals..

Und sie fliegt. Für einen Moment fliegt sie. Und während sie durch die Luft gleitet, sieht sie ihn ein letztes Mal. Er steht dort unten, wartet auf sie, lächelt ein letztes Lächeln und endlich, endlich winkt er sein letztes Winken.

© Alexandra Gregor

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